Kein Örtchen. Nirgends.
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Kein Örtchen. Nirgends.

Das Buch ist kein Eisenbahnbuch. Ich nehme es trotzdem hier auf dieser Website in die Auflistung meiner Bücher auf. „Wir haben uns früher auch nicht für barrierefreie Toiletten interessiert - bevor es uns betroffen hat“, das ist ein Zitat von der Rückseite des Buchs. So wird es vielen der Personen gehen, die das hier vorfinden. Eine Claudia und ein Bernd sind die Autoren des Buchs. Anders als bei meiner Frau Claudia und mir schiebt dort der Bernd.
Wer im Rollstuhl unterwegs ist, wird recht bald vor der Frage stehen, wo eine für ihn zugängliche Toilette ist und wie es um diese bestellt ist. Das wird schon alles seine Ordnung haben, vermutet völlig unberechtigterweise der, der sich nicht um die Details gekümmert hat. Im Buch geht es nicht so sehr um die Normen, sei es die DIN 18040-1 und -2 oder gar die TSI PRM für Züge, als vielmehr um alltägliche Nutzungshindernisse, die durch Nichtbeachtung der Normen beim Bau, fehlende Vorschriften, unrichtige Umsetzung und Gedankenlosigkeit wie das Blockieren der wenigen vorhandenen Einrichtungen ausgelöst werden. Im Rollstuhl auf der Suche nach einem stillen Örtchen wird man sie leicht selbst finden: die mit den kaum oder nicht allein mit eigener Kraft passierbaren Türen, die Abstellkammern (Seite 45; die gibt es übrigens in Restaurants auch mit gestapelten, frischen Tischdecken!), die mit dysfunktionaler Ausstattung und den Standard: falsch herum montierte Toilettenpapierhalterungen, bei denen durch das Anheben des Stützklappgriffs die Rolle WC-Papier zu Boden stürzt (Seite 59) und den Reserve-Rollen auf einem wegen der Höhe nicht zugänglichen Sims (letzteres siehe Seite 99). Einen Wickeltisch so in den Weg stellen, daß der Rollstuhlnutzer nicht an das WC kommt, das gibt es öfter, einen auch für Rollstuhlfahrer nutzbaren Wickeltisch für einen Menschen im Rollstuhl mit Kleinkind eher selten.
Seitens der Politik - egal welcher Ebene - ist wenig zu erwarten, dort will man lieber das Gute sehen und loben - egal, ob es da ist oder nicht - und nicht die Situation für die Betroffenen erkennen oder gar verbessern. Folgerichtig gehört in das Buch das Kapitel über positive Überraschungen, schon weil es erwartet wird. Die wird es, die muß es einfach geben. Im Gespräch mit einem anderen Rollstuhlfahrer, der sich auch intensiv mit den Normen beschäftigt hat, zu der Problematik kam er zu dem gleichen Ergebnis wie ich: wir beide hatten über mehr als ein Jahr keine normgerecht gebauten und so betriebenen Behindertentoiletten vorgefunden. Nirgends.
Übrigens: sogar auf den Bildern der wenigen für brauchbar befundenen Toiletten im Buch kann man entdecken, daß selbst die keineswegs alle wirklich wie vorgeschrieben oder vorgesehen ausgestattet und betrieben sind. Sei es die angeblich leicht wegschiebbaren Transportwagen vor dem Eingang - wie geht das mit dem Wegschieben, wenn man die nach außen öffnende Tür beim Verlassen der Toilette dagegen drückt (Seite 76)? Wie kommt der Rollstuhlfahrer nach einem Sturz auf den Boden beim Umsetzen zwischen WC-Becken und Rollstuhl an die viel zu kurze Alarmschnur (Seite 81)? Ok, wahrscheinlich merkt er eher, daß für ihn kein WC-Papier erreichbar ist (Seite 81). Die Schnur zu kurz, die Halterung für das WC-Papier falsch herum montiert, das ist auch auf dem Bild auf Seite 103 zu sehen, über dem „Hier stimmt alles“ steht. Die Schnur formal lang genug (bis kurz über dem Boden), die Rollen-Halterung aber schlecht erreichbar an der rückwärtigen Wand, das ist auf Seite 107 im Kapitel Juwelen mit „Besser geht es kaum“ überschrieben. Wo steht wohl der Rollstuhl beim Umsetzen aus dem Rollstuhl nach links und wie käme man nach dem Sturz auf den Boden dann an die Schnur? So gesehen erklärt sich der Titel: „Kein Örtchen. Nirgends.
Wie schon angedeutet, Toiletten in Bahnhöfen und Zügen sind nicht drin, doch so viel kann ich hier verraten: barrierefrei nach neuester TSI PRM bedeutet keineswegs, die Toiletten wären für Rollstuhlfahrer überhaupt nutzbar. Vom Zustand und der Reinlichkeit einmal ganz abgesehen. Rollstuhlfahrer müssen nämlich zwangsläufig mehr anfassen, als das die andern WC-Nutzer tun. Nach dieser Norm zugelassen und nicht barrierefrei im Sinne des ohne fremde Hilfe nutzbar, das ist so vorgesehen.
Für die mancherorts gut gemeinten Listen mit barrierefreien Toiletten in der Gemeinde: die Selbstauskunft von Betreibern allein bringt sicherlich keine zutreffenden Ergebnisse. Begehung vor Ort hat auch seine Tücken: wie bei den Autoren verschleiert die Unterstützung der Begleitpersonen schon Schwächen der besuchten Einrichtung. Die Tür hinter sich zu machen mangels Platz zum Drehen? Schnell das Fenster zu machen, weil es für die Sitzung sonst zu kalt würde, das geht oft aus dem Rollstuhl heraus nicht, weil die Griffe am Fenster nicht erreichbar sind. Und das kann sogar normgerecht sein.
Als Einstieg in die Problematik macht die Lektüre des Buchs Sinn. Wer sich näher mit dem Thema beschäftigt hat, wird Details erkennen. In der Zeichnung auf Seite 54 ist ein Kreis mit 150 cm Durchmesser zum Wenden angedeutet, aus gutem Grund ist die Bewegungsfläche nach DIN 18040-1 ein Rechteck (Quadrat) mit mindestens 150 cm x 150 cm Fläche.

Claudia Hontschik, Bernd Hontschik, erschienen 2020, 112 Seiten, 15,1 cm x 21,5 cm, ISBN: 978-3-86489-303-2.


Scan: Bernd Kittendorf (info@bernd-kittendorf.de)
Homepage: www.bernd-kittendorf.de



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